Früher habe ich, wenn ich einmal mit dem Zeichnen angefangen hatte, meist sehr schnell wieder aufgehört.
Als die Sehnsucht nach Stift und Papier mal wieder besonders groß wurde, habe ich mir einen großen Bogen Zeichenpapier auf dem Küchentisch zurecht gelegt und einen Kasten funkelnagelneuer Buntstifte. Voller Erwartung griff ich mir einen Stift.
Was wollte ich jetzt zeichnen?
Etwas…..etwas…., knapp über dem Papier schwebend, zog ich unsichtbare Linien in die Luft,… etwas ….besonders Schönes. Das Papier strahlte weiß und rein. Etwas Großartiges wollte ich zeichnen. Das war klar. Was könnte das sein? Um die Zeit zu überbrücken, bis mir etwas einfallen würde, probierte ich auf einem Zettel alle Stifte aus. Ich musste ja wissen, welche Farben mir für mein großes Werk zur Verfügung stehen.
Also gut, sagte ich mir, dann fange ich mal an. Jetzt.
Schließlich zeichnete ich eine kleine Schnecke mit Gesicht auf die untere rechte Ecke des Blattes. So eine, wie ich sie während der Schulzeit schon hundert mal in meine Hefte gekritzelt hatte. Ich zerknüllte das Zeichenpapier und warf es weg.
Ende vom Zeichnen. Ich musste der Tatsache ins Gesicht sehen, mal wieder hatte ich nichts Besonderes gezeichnet und würde es auch nie tun.
Eine meiner ersten Zeichnungen, die mich nicht frustriert hat, weil ich keinerlei Erwartungshaltung hatte, war die einer Fliege.
Die Fliege saß auf der Fensterbank, und ich habe sie, so ganz nebenbei in Gedanken versunken, in mein Notizbuch abgezeichnet. Als ich einige Tage später das Notizbuch wieder aufschlug, war ich überrascht.
„Ich habe tatsächlich eine Fliege gezeichnet! Hurra! Und die sieht aus wie eine Fliege! Wahnsinn! Das gibt´s doch nicht! Ich wusste gar nicht, dass eine Fliege so aussieht! Klasse! Die ist mir ja richtig gelungen!“
Und so ging das eine Weile. Ich habe mich dann wieder beruhigt, aber mir war klar geworden, dass das Besondere oft im Unscheinbaren und Nebensächlichen verborgen liegt.
Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, dass es eine gute Idee ist, mit dem Zeichnen „klein“ anzufangen.
Damit meine ich nicht, sich selbst klein zu machen, sondern die Umstände, unter denen man anfängt „klein“ zu halten
Mit „kleinem“ Material anfangen
Sich vor dem Anfangen bitte keinen Graphik-Art-Pen-Kasten mit 27 Stiften in 48 verschiedenen Graustufen anschaffen oder gar schenken lassen. Auch wenn man glaubt, so ein Kasten ist das Begehrenswerteste, was man je gesehen hat. Der Druck, mit diesen kostbaren Materialien jetzt auf der Stelle erlesene Kunst entstehen lassen zu müssen, wirkt einfach zu lähmend.
Irgendein Stift, z.B. der angenagte Bleistift, der in der Küchenschublade liegt und ein Notizbuch sind für den Anfang ganz prima.
Mit „kleinen“ Motiven anfangen
Kein großes Projekt planen, wie z.B. alle 12 Enkel als Geschenk für die Oma zu porträtieren und sich zu diesem Zweck zuerst in das neu angeschaffte Buch übers Porträt zeichnen einzulesen. Spätestens bei Lektion 2 „Wie zeichne ich glänzende Augen“ wird das Projekt und leider auch das Zeichnen für immer aufgegeben.
Das Frühstücksei, die Nachttischlampe oder die Computermaus werden tausend Mal gesehen und nie wirklich angeschaut. Warum nicht das Nebensächliche und Naheliegende zeichnen?
Das Anfangen bleibt jedoch nicht den Anfängern vorbehalten. Jeder Zeichner, auch der erfahrenste, fängt mit jeder neuen Zeichnung wieder ganz von vorne an.
Jede Zeichnung fängt klein an und wenn sie fertig ist, hat sie es nicht mehr nötig großartig zu sein.
Seit November 11 verfolge und erfreue ich mich jeden Morgen ob ihren Skizzen und Zeichnungen. Ihre Denkweise und Erfahrungen sind mir sehr bekannt und nah, da ich sie mit Hilfe des Buches „Das Neue Garantiert zeichnen lernen* von Betty Edwards erstmals erlebt habe. Auch bei meinen Schülerinnen und Schülern sind die Ergebnisse dieser Vorgehensweise beim Zeichnen anderst, verblüffend und für sie sehr
aufbauend.
Vielen Dank Frau Wald für Ihre persönlichen Einsichten!
Hallo Christa,
ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihren Kommentar und die freundlichen Worte.
Es ist immer so schön, wenn man merkt, dass man da „draußen“ im Internet gehört und verstanden wird. Zeichnen lehren und zeichnen lernen ohne die emotionale und intuitive Seite zu berücksichtigen, geht einfach nicht, wird aber leider sehr oft nicht berücksichtigt.
Viele Grüße und bis bald, 🙂
Martina
Man, auch ich mir ging das schon so, unterliegt oft der irrigen Annahme es läge am Material.
So nach dem Motto „Der Faber-Castell-Stifte-Kasten, ja wenn ich den hätte, dann würde ich auch gut zeichnen“. Oder so ähnlich.
Ich sage, der Ikea-Bleistift tut’s auch. Der ist klein, der ist gratis und einen Zettel gibt’s auch noch dazu. Umsonst ist aber er nicht, denn wer wissen will was in ihm steckt der sollte damit mal zeichnen.
Viele Grüße 🙂
Ben
Diese kurzen gelben Stifte, die hatte ich ganz vergessen. Im Zeitalter von Einkaufszettel-Apps ist Bleistifte verschenken ja liebenswert anachronistisch.
Auch ich bin ja schon lange Fan Deiner Zeichnungen und Texte und diesen hier habe ich wieder sehr gerne gelesen, ich glaube ich will mal wieder eine Fliege malen. …nur noch einen Platz frei,,, super! l. G Helen
Danke, liebe Helen, das Fan-sein beruht auf Gegenseitigkeit. 🙂
Ja, das stimmt. Jedes neue Bild, jede neue Zeichnung beginnt/ist als ob man wieder „ganz von vorne“ anfängt. Verbunden mit einer kleinen Überwindung, endlich den Stift zu nehmen und die Fläche zu „bearbeiten“. Ein schöner Blog. Bin durch Facebook darauf aufmerksam geworden.
Herzlichen Dank für deinen freundlichen Kommentar, Carl. Es freut mich sehr, dass dir der Blog gefällt.