„Das Ganze kann nicht länger als ein paar Minuten dauern – dann stimmt es, oder auch nicht…wenn es nicht stimmt, wird der Versuch wiederholt, wenn nötig, mehrere Male, bis das Resultat überzeugt.“
Marylka Bender über das Porträt zeichnen, aus: Marylka Bender, Der tanzende Pinsel, 1997. Die Malerin, Zeichnerin und Schriftstellerin Marylka Bender, geboren 1909, lebt in München.
Während des Zeichnens war immer mal ein Stöhnen im Raum zu hören: „Ach, ich habe die Nase falsch gezeichnet.“ oder „Das sieht gar nicht richtig aus.“
Ich hatte einige Texte der Künstlerin Marylka Bender mitgebracht. In einem spricht sie darüber, wie sie ihre Porträtzeichnungen nach deren Fertigstellung einschätzt. (s. Zitat oben)
Wir haben diese Texte gelesen und beschlossen, in Anlehnung der Ausdrucksweise von Marylka Bender, die Wörter „falsch“ bzw. „schlecht“ und „richtig“ bzw. „gut“, die wir alle so selbstverständlich im Bezug auf unsere Zeichnungen benutzen, durch „stimmt (nicht)“ und „überzeugt (nicht)“ zu ersetzen.
Mit dem Satz „die Nase ist falsch“ kann ich nichts anfangen. Das ist eine Feststellung, die mir nicht sagt, wie ich weitermachen kann. Wenn ich aber sage „die Nase stimmt nicht“, spüre ich sofort, dass ich sie nach-stimmen kann, immer und immer wieder. Mit dieser Einschätzung bleibe ich zeichnend in Bewegung, während mir „falsch“ nur die Tür gerade vor dieser Nase zuschlägt.
Wenn ich sage, „dieses Porträt ist gut“, ist das eigentlich eine positive Aussage. Aber wer „gut“ sagt, bleibt doch nur in dem nichtssagenden Bewertungssystem von „gut oder schlecht“ stecken.
Marylka Bender spricht davon, dass das Resultat, also das Porträt „überzeugt“.
Ein Porträt, das ich „gut“ finde, bleibt stumm. „Gut“ als Beschreibung ist ungenau und beliebig. Wenn ich hingegen entscheide, ob mich ein Porträt „überzeugt“ oder „nicht so überzeugt“, hat mir dieses Porträt ganz viel zu sagen.
Ein Porträt, das ganz offensichtlich „falsch“ gezeichnet ist, kann trotzdem eine tief empfundene ausdrucksstarke Darstellung sein, die den Charakter und auch das Aussehen eines Menschen sehr genau nachzeichnet und kann somit als Porträt überzeugen.
Wie „überzeugend“ vermeintlich falsch gezeichnete Porträts sein können, konnten wir bei einer Übung nachvollziehen, die uns allen großen Spaß gemacht hat.
Verdeckt und für die anderen uneinsehbar, bekam jeder Teilnehmer des Workshops drei Fotos berühmter Persönlichkeiten ausgehändigt. Die Aufgabe bestand darin, die Gesichter dieser Menschen sehr schnell zu zeichnen und dabei darauf zu achten, was das jeweils Besondere ist, was diesen einen Menschen unverwechselbar macht und für jeden wiedererkennbar.
Dann wurden die Zeichnungen gezeigt und alle mussten raten oder besser: erkennen, wer diese gezeichnete Person ist.
Alle Personen wurden erkannt, denn alle Zeichnungen waren „überzeugende“ Porträts.
Waren die Fotos etwa ganz genau abgezeichnet worden?
Nein, in der Kürze der Zeit war das nicht möglich.
Haben an diesem Workshop etwa nur sehr erfahrene Porträtzeichner teilgenommen?
Nein, das war nicht der Fall.
Was war es dann, was diese Porträtzeichnungen so überzeugend machte?
Zuerst einmal war es ganz wichtig, dass wir keine große Sache von Sein oder Nicht-Sein daraus gemacht haben. Keiner musste Bedenken haben für seine Zeichnungen kritisiert oder gar ausgelacht zu werden. Alle Zeichner waren guter Dinge und haben fröhlich und entspannt drauflos gezeichnet.
Die Zeichenzeit war begrenzt. Keiner hatte Gelegenheit sich lange in die Proportionen eines Gesichts zu vertiefen.
Die Proportionen übrigens haben bei diesen überzeugenden Porträts fast nirgends gestimmt. Aber genau das war ja die interessante Entdeckung, die bei unserem Zeichen-Experiment so augenfällig wurde: Es ist eben nicht die exakte Wiedergabe eines Gesichts, die für die unverkennbare Ähnlichkeit und Lebendigkeit eines Porträts verantwortlich ist.
Die herzlich lachenden Augen habe den Dalai Lama verraten und das längliche Gesicht und die großen Ohren Prinz Charles. Die üppigen Kronjuwelen waren bezeichnend für die englische Königin und Angela Merkel wurde ohne zu zögern an ihrer ganz speziellen Ponyfrisur erkannt. Der winzige Mund, das herzförmige Gesicht und die dunklen hoch geschwungenen Augenbrauen konnten nur zu Liz Taylor gehören und diese merkwürdig unerschütterlich wirkende Frisur machte für uns alle John F. Kennedy unverkennbar.
Marylka Bender schreibt: „Oft ist es nur ein bestimmter Gesichtsausdruck, ein Zug um den Mund etwa, eine Kopfhaltung, eine Wangenkontur, die für die Charakterisierung ausschlaggebend ist.“
Und genau diese kleinen Besonderheiten sieht man zuerst, wenn man einem Menschen aufmerksam ins Gesicht schaut, und zwar bei allen Menschen, nicht nur bei Berühmtheiten.
Seiner eigenen Wahrnehmung und Sichtweise zu vertrauen und diese ohne zu zögern selbstbewusst aufs Papier zu bringen sind die besten Voraussetzungen, um überzeugende Porträts zu zeichnen.
„… zeichnend in Bewegung bleiben“, das gefällt mir. Und dass sich eine Welt jenseits von „falsch“ und „richtig“ eröffnen kann.
Wie Du das zusammenfasst gefällt mir, PepeB: „…dass sich eine Welt jenseits von „falsch“ und „richtig“ eröffnen kann.“ Genau jenseits von falsch und richtig beginnt das eigenständige, das wirklich „GUTE“ (!) Zeichnen – das Zeichnen, das davon erzählt, was die Zeichnerin wirklich gesehen und empfunden hat.