Es geschieht immer wie von selbst. Es funktioniert wie irgendein verdammter Mechanismus, der ausgelöst wird, sobald man mit der Absicht zu zeichnen, einen Stift in die Hand nimmt.
Von „ich möchte so gerne zeichnen“ wechselt der innere Modus sofort auf „jetzt muss ich zeichnen“ und schaltet dann noch einen Gang weiter in „jetzt kommt es darauf an, dass ich gut zeichne“.
Ruckzuck hat sich der Wunsch zu zeichnen verwandelt in eine Forderung. Eine Forderung, die uns völlig über-fordert, weil wir gar nicht wissen, WAS genau wir von uns verlangen. Was sollen wir denn eigentlich jetzt tun und wofür soll das gut sein? Macht das überhaupt Sinn?
Dass wir uns vor noch gar nicht so langer Zeit, so vor ungefähr 20 Sekunden, auf das bevorstehende Zeichnen gefreut haben, kurz bevor der Zeichenblock aufgeschlagen wurde und bevor wir den Stift in der Hand hielten, haben wir völlig vergessen.
Was? Zeichnen soll ich? Kann ich nicht!
Das Wort „zeichnen“, so schlicht und unschuldig es daher kommt, hat es in sich.
Selten darf es mal nur das sein, was es ist, ein Verb, das für eine bestimmte Tätigkeit steht.
Kaum ein Wort ist so belastet mit Vorurteilen, Schamgefühlen und der Angst zu versagen, wie dieses Wort.
Wahrscheinlich ist das Wort „zeichnen“, dasjenige, das am häufigsten gemeinsam mit „ich kann nicht“ ausgesprochen wird.
Noch nie habe ich in den vielen Jahren, in denen ich zeichne, mich intensiv mit dem Zeichnen beschäftige und mit unzähligen Menschen über das Zeichnen gesprochen habe, von Jemandem auch nur einmal den Satz „ich KANN zeichnen“ gehört.
Von sich selbst zu sagen, man könne zeichnen, wird als ungeheure Anmaßung empfunden, eine Behauptung, der man glaubt, nicht standhalten zu können.
„Zeichnen können“ wird automatisch gleich gesetzt mit „jederzeit perfekt zeichnen können“.
Wenn also Zeichnen so etwas unvorstellbar Schwieriges ist, das, wenn überhaupt nur in höchster Vollendung getan werden sollte, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, warum sind wir dann überhaupt jemals auf die Idee gekommen, zeichnen könnte uns Freude bereiten?
Ganz einfach: Wir haben uns aufs Zeichnen gefreut, solange wir noch nicht daran gedacht haben, dass wir, um zu zeichnen, tatsächlich zeichnen müssen.
Wir haben uns nicht auf die Tätigkeit des Zeichnens gefreut, sondern auf das, was wir mit dieser Tätigkeit verbinden.
Wir haben uns darauf gefreut, was wir erleben werden beim Zeichnen und auf die Erfahrungen, die uns das Zeichnen ermöglicht.
Wir haben uns so lange auf das Zeichnen gefreut, bis uns klar geworden ist, von einer Sekunde auf die andere, dass wir uns in eine Unternehmung hinein manövriert haben, aus der es nur zwei Auswege gibt:
Entweder wir machen das hier richtig genial oder wir versagen völlig. Es gibt nur grandios gewinnen oder peinlich scheitern.
Ursprünglich hatten wir uns auf das Erlebnis des Zeichnens gefreut, aber sobald es tatsächlich ans Zeichnen geht, darum echte und sichtbare Linien auf dem Papier zu ziehen, wird in unserem Kopf plötzlich dieser Schalter umgelegt, und wir denken nicht mehr an das Erlebnis, sondern an das Ergebnis des Zeichnens.
Zeichnen hat dann plötzlich nichts mehr mit Freude zu tun, sondern mit Mühe und Erfolgsdruck.
Diese, meistens von schmerzhaften Erfahrungen in der Vergangenheit gespeisten Gedanken, die behaupten, man solle das Zeichnen lieber gleich sein lassen, weil nichts Gutes dabei herauskommen wird, kann man aber austricksen.
Wenn diese Gedanken uns das Zeichnen ausreden wollen, bitte sehr, sollen sie doch.
In Wirklichkeit geht es uns nämlich gar nicht ums Zeichnen. Wir wollen doch ganz was anderes.
Zu sagen „ich möchte gerne zeichnen“ ist doch nur eine sehr ungenaue Formulierung für etwas ganz anderes, für etwas, das über das Zeichnen, wie es allgemein verstanden wird, weit hinaus geht.
Statt „ich möchte gerne zeichnen“, kann man sagen:
„Ich möchte gerne beobachten“ und „ich möchte gerne entdecken“ und „ich möchte gerne erleben, erfahren, erkunden, erkennen, betrachten, durchschauen, erforschen, herausfinden.“
Man kann sagen „ich möchte mich gerne überraschen lassen, ich möchte mich gerne einer bestimmten Sache zuwenden, ich möchte das Papier unter der Hand fühlen, ich möchte das Geräusch des Stiftes hören, ich möchte spüren, wie sich der Druck meiner Hand verändert und mit ihm der Ausdruck meiner Linien.“
Statt „ich möchte gerne zeichnen“ kann man auch sagen, „ich möchte mich gerne über ein randvolles Skizzenbuch freuen, ich möchte mich gerne verbinden, mit dem, was mich umgibt, ich möchte gerne etwas Unvorhersehbares entstehen lassen, ich möchte genießen, ich möchte staunen, ich möchte mich wundern, mich verlieben.“
All diese Gefühle und Erlebnisse sind es, die uns das Zeichnen wertvoll machen.
Wenn wir uns aufs Zeichnen freuen, freuen wir uns in Wirklichkeit auf diese Fülle von Möglichkeiten und neuen Erfahrungen, die uns das Zeichnen bietet.
Wenn wir uns darüber im Klaren sind, lassen wir uns, sobald wir den Stift in die Hand nehmen, das Zeichnen nicht mehr vermiesen.
Ach ja, stimmt, beim Zeichnen entstehen Zeichnungen.
Wenn wir uns dafür entscheiden, das Zeichnen in dieser ganzen Fülle zu erleben, werden unsere Zeichnungen voller Leben sein.