Und es geht doch ohne Ohren

In meiner umfangreichen und wertvollen Handzeichnungen- und Druckgraphiken-Sammlung (bestehend aus Computer-Ausdrucken und Photokopien) habe ich Porträts gefunden, die durchaus ohne die Darstellung von Ohren auskommen.

Wenn ich beim Zeichnen mal wieder zu ungeduldig bin, um auch noch die Ohren zu berücksichtigen, kann ich mich wenigstens auf berühmte Vorbilder berufen.

Henri Matisse, Kopf einer Frau, Conté-Stift auf Papier, 1952 - Quelle: artnet.de

Ross Wilson, Seamus Justin Heaney, Kohle und Bleistift, 1994, National Portrait Gallery, London

Clare Winsten, Portrait of Isaac Rosenberg, Bleistift, 1915 - Quelle: artnet.de

Gehören die Ohren zum Gesicht?

Diese Frage geht mir beim Porträt zeichnen schon mal durch den Kopf.
Ich zeichne gerne schnell. Es gibt doch auf der Welt so viele Gesichter zu zeichnen und plötzlich sehe ich ein so kompliziert geformtes Ohr, das meine Aufmerksamkeit verlangt, und dann frage ich mich ungeduldig, muss ich die Ohren etwa auch noch zeichnen?
Oft ziehe ich mich mit einem schnellen C-förmigen Kringel aus der Affäre, ohne mir die Zeit zu nehmen, dieses Ohr ganz genau anzuschauen.
Bei den Ohren kommt es doch nicht so drauf an, denke ich mir, wird schon irgendwie gut gehen. Schließlich hängt die Wiedererkennbarkeit eines Gesichtes nicht von einem korrekt dargestellten Ohr ab.
Auf den ersten Blick sieht so ein Ohr wirklich verwirrend aus. Ein Ohr zu zeichnen ist eine Herausforderung. Da ist so ein Wulst und eine große Vertiefung und es gibt so viele Knubbel und Kuhlen und selbstverständlich gleicht kein Ohr dem anderen.
Ein Kunstprofessor, so las ich kürzlich, verabschiedete sich in den Ruhestand. Wenn es ihm gelungen sei, sagte er in seiner letzten Vorlesung, seinen Schülern wenigstens beizubringen wie man Ohren zeichnet, sei er zufrieden.
Ein bescheidener Mann.
Aber ich habe mich ertappt gefühlt. An den Ohren kann man also die fleißigen von den faulen Zeichnern unterscheiden?
Ich bin mir da nicht so sicher.
Allerdings fällt es mir immer weniger leicht beim Porträt zeichnen über die Ohren hinwegzusehen.
Deshalb habe ich für ein paar Tage meine tägliche Porträtzeichnen-Zeit ausschließlich dem Ohren zeichnen gewidmet.

Wir alle haben Ohren am Kopf, aber wir sehen sie nicht alle Tage. Das Aussehen unserer eigenen Ohren ist uns eher fremd.
Ich wette, dass viele Menschen auf Fotos aus einer größeren Auswahl von Ohren, ihre eigenen Ohren nicht zweifelsfrei identifizieren könnten. Ich jedenfalls würde mich auf diese Wette nicht einlassen.
Wenn man einem Menschen begegnet, sind es nicht die Ohren, die zuerst bemerkt werden.
Eine verspiegelte Sonnenbrille, hinter der jemand seine Augen verbirgt, wird, zumal bei einer allerersten Begegnung, als störend empfunden. Wenn man die Augen eines Menschen nicht sehen kann, so glaubt man, sieht man den ganzen Menschen nicht vollständig.
Eine Mütze hingegen, die bis über beide Ohren reicht, wirkt scheinbar nicht beeinträchtigend.
Wenn Menschen miteinander sprechen, besonders wenn es etwas emotional sehr bedeutsames zu sagen gibt, schauen sie sich in die Augen.
Oder hat man schon jemals einen Liebhaber seufzen hören: „Ich schau Dir in die Ohren, Kleines?“
Nachdem ich so viel Zeit zeichnend in der Gesellschaft von Ohren verbracht hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören Ohren zu sehen.
Überall wo ich hin kam, hatten die Menschen plötzlich Ohren.
Meine kleine Selbstschulung im  Ohren zeichnen hatte mich gelehrt, dass die Ohren tatsächlich „zum Gesicht gehören“.
Ich machte erstaunliche Entdeckungen. Jedes Gesicht, in das ich blickte, schien mir bereichert und ausdrucksstärker, sobald ich die Ohren, soweit sichtbar, „mit anschaute“. Ich war überrascht, wie wichtig die Ohren für das Erscheinungsbild eines Menschen sind.
Seinen Mitmenschen nicht nur in die Augen, sondern auch mal auf und in die Ohren zu schauen, lohnt sich. Es muss ja nicht gleich ganz so tief sein.