Selbstgespräch

„Deine Zeichnungen sind zu harmlos. Harmlos wie schmerzlos.

Der Anblick einer Zeichnung muss immer auch ein bisschen Unbehagen auslösen, ein bisschen erschrecken.

Ich meine damit nicht, du sollst etwas Gruseliges zeichnen oder irgendetwas tatsächlich Erschreckendes, sondern das, was du gesehen hast, bevor du es in deinem Kopf beschönigt und in eine harmlose Begebenheit verwandelt hast, um es vorzeigbar zu machen. Vorzeigbares wollen wir nicht sehen.“

„Ach ja? Ist dir diese Zeichnung unbehaglich genug?“

Was erwarte ich von Kunst?

Ich will eine ästhetische Erfahrung machen, ohne das dahinterstehende Konzept kennen zu müssen. Wenn ich das Konzept kenne, verändert sich dann die Erfahrung?

Ja, denn wenn ich weiß, was die Künstlerin zum Ausdruck bringen will, denke ich unweigerlich über die Kunst nach, frage mich, ob ich das auch so sehe, ob ich das Konzept nachvollziehen kann usw.

Unweigerlich mache ich mir Gedanken, Gedanken, die sich mir vor die Augen stellen, sodass ich die Kunst nicht mehr unvoreingenommen wahrnehmen kann.

Das Wissen über das Konzept eines Kunstwerks löst unwillkürlich eine Interpretation in meinem Kopf aus und eine unmittelbare ästhetische Erfahrung ist unmöglich.

Oft reicht schon die Kenntnis des Titels eines Kunstwerks, um nicht mehr klar sehen zu können.

Rose Nr. 821

Ich zeichne schnell, damit ich mit der Zeichnung fertig bin, bevor mir der Gedanke kommt, endlich mit der Zeichnung fertig werden zu wollen.

In dem Moment, wenn ich mit einer Zeichnung einfach nur fertig sein will, habe ich nämlich den Kontakt zum Motiv verloren und ich zeichne nur noch mechanisch. Und das langweilt mich.

Schnuppern

An keinem Fliederbusch kann ich vorbeigehen, ohne an einer der Blüten zu schnuppern.

Ich habe ein sehr schlechtes olfaktorisches Gedächtnis. Wenn ich nicht direkt am Flieder stehe, kann ich mir seinen Duft nicht vorstellen.

Aber sobald ich die Nase zwischen die Blütenblätter stecke, denke ich ahhh und genieße den Duft.

Doch sobald ich mich abwende, verschwindet die Erinnerung daran sofort.

Jedes Mal, wenn ich erneut schnuppere, ist es wie eine neue Entdeckung: „Ah, so riecht also Flieder. Einfach wunderbar.“

Selbstbefragung

Willst du Zeichnungen machen, die perfekt und kleinlich sind, weil du dich fürchtest, sie könnten jemandem nicht gefallen oder willst du Zeichnungen machen, die dich überraschen, weil du mutig genug bist, niemandem etwas beweisen zu wollen?

Einfach nur sehen

Ich schreibe wieder und ich schreibe weiter, mache mir Notizen und Gedanken.

Die Gedanken machen mich.

Die Freude ist zurückgekehrt oder eine Freude.

(Gibt es unterschiedliche?)

Ich spreche von der, die über allen anderen steht (für mich), die Freude, die einen Holzpflock am Feldrand sieht und dessen Anblick genießt, weil er aussieht, wie er aussieht.

Unbeschreiblich.

Wenn ich ihn beschriebe – mit Wörtern äußerlich beschriebe – würde er dahinter unsichtbar.

So aber, solange mein Blick auf ihm ruht, habe ich ihn für mich, als schmeckte ich seine Schönheit mit den Augen.

Befreie dich von Falsch und richtig beim Zeichnen

Wünschst du dir stets fehlerlos zeichnen zu können?

Kein Problem. Ich schwinge meinen Zauberstab und – PING – dein Wunsch ist erfüllt.

Ok, ich gebe es zu, ich kann nicht zaubern. Und es sind nicht meine magischen Kräfte, die dir diesen Wunsch erfüllen, sondern deine ganz eigene Kraft.

Im Folgenden sage ich dir, wie.

Fehlerlos zeichnen zu können ist eine Frage des Vertrauens, in das Vertrauen des eigenen Ausdrucksvermögens. Ausdrucksvermögen ist ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Natur. Wir alle besitzen es. Es ist uns, sozusagen, von Gott gegeben.

Egal, wo wir gehen und stehen, wo wir atmen, wo wir präsent sind, wir bringen unser Wesen zum Ausdruck, sei es durch Sprache oder Körperhaltung, durch Mimik oder Gestik, durch Singen, schreiben, lachen, weinen, malen oder zeichnen.

Außerdem müssen wir darauf vertrauen, dass jegliches Tun, mit der Absicht etwas entstehen zu lassen (hier: zeichnen), wertvoll ist. Unsere Absicht sollte nicht sein, etwas Gutes oder Besonderes zu schaffen, sondern einfach „Etwas“ entstehen zu lassen, ohne Wertung.

Wenn wir „Etwas“ entstehen lassen wollen, müssen wir Energie aufbringen, wie z.B. den Stift übers Papier zu bewegen.

Etwas entstehen zu lassen bedeutet etwas von der Nicht-Existenz in die Existenz zu bringen. Das ist die Definition von Schöpfung. Zeichnen ist demnach ein Akt der Schöpfung.

Jede Schöpfung ist weder gut noch böse, ist weder falsch noch richtig. Erst im kulturellen Kontext wird eine Bewertung vorgenommen.

In unserer Gesellschaft wird es oft als beinahe unmoralisch betrachtet, den Anspruch zu haben, wertzuschätzende Zeichnungen anfertigen zu wollen, obwohl man keine Lust hat, konventionellen Zeichenregeln zu folgen.

Wo Zeichenregeln nicht befolgt werden, wird falsch gezeichnet. Das jedenfalls behauptet die Zeichenpolizei und die hat ihre Spione überall. Es herrscht die Angst davor, falsch zu zeichnen, als wäre es moralisch verwerflich.

Richtig und falsch entsprechen gut und böse. Diese dualistische Denkweise hält uns gefangen in einem Käfig aus schwarzen und weißen Gitterstäben. Wohin wir uns auch wenden, es scheint stets nur das eine oder das andere zu existieren.

Doch was wäre, wenn wir uns von diesem moralischen Dualismus befreien und unsere Zeichnungen nicht mehr dieser normativen Sichtweise unterwerfen würden?

Wir könnten zeichnen so wie wir zeichnen. Einfach so.

Wir müssten unsere Energie nicht mehr darauf verschwenden, schwitzend und ängstlich unsere Striche und Linien zu kontrollieren, als sei Zeichnen ein Drahtseilakt, bei dem wir jeden Augenblick abstürzen könnten.

Dieses Konzept von falsch und richtig beim Zeichnen ist kein Naturgesetz, sondern bloß eine fragwürdige Erfindung unserer Kultur, die wir einfach ignorieren können. Es liegt in unserer Macht, dieses Konzept für wahr zu halten oder nicht. Es ist unsere Entscheidung.

Wir könnten, befreit von konventionellem Denken, Zeichnungen, also „Etwas“, entstehen lassen, ohne es im selben Moment in die eine oder andere Richtung zu bewerten.

Wenn wir das Entstehen einer Zeichnung als neutrales Ereignis betrachten, als einen neutralen Akt der Schöpfung, können wir mit Zuversicht zeichnen und wissen, dass wir etwas Sinnvolles tun.

Der Sinn des Zeichnens liegt nicht in unserer Zuschreibung, sondern ist im Zeichnen selbst inhärent.

Jede Zeichnung hat Anteil am Zeichnen selbst, genauso wie jedes gesprochene Wort, unabhängig, ob es verstanden wird oder nicht, Anteil an der Sprache insgesamt hat. Es gibt grundsätzlich keine falschen oder richtigen Wörter. Falsch und richtig werden erst im Kontext einer normativen Struktur definiert.

An dieser Stelle möchtest du vielleicht tief ein- und ausatmen und dir bewusst machen, wie wohltuend es wäre, etwas bewertungsfrei zu betrachten, auch die eigenen Zeichnungen.

Es ist so befreiend.

Der Drang, uns für unsere Zeichnungen rechtfertigen zu müssen, verschwindet.

Unsere Zeichnungen sind selbstverständlich.

Und fehlerlos. (PING)

Dieser Moment

Karl Bohrmann: „Ich habe die Vorstellung, dass in jenem Moment, den es zu erwischen gilt, die Zeichnung sich selber zeichnet. Dass in dieser Temperatur das Wissen und Wollen, alle zeitlichen Zwänge sich auflösen, oder wie man das sonst noch zu umschreiben sucht, dass es das Simpelste von der Welt wird.

Du weißt, wie sehr die Kunst Geschenk ist, dass sie einem zufällt, wenn der Blick offen ist, dass nichts dazwischen treten darf, dass es um den Anfang geht, das plötzliche Dasein, um Gegenwärtigkeit, Gewahrsein.

Das kann man zwar wünschen, aber nicht wollen. Das geschieht.“

Karl Bohrmann, 100 Aktzeichnungen mit rotem Mantel, 1996, S. 134