Beim Zeichnen nach der Natur gibt es ein grundlegendes Problem:
wie nehmen die Dinge um uns herum nicht in ihrer ganzen Wahrheit wahr. Wir sehen sie immer nur flüchtig und ungenau. Wir bemerken sie quasi nur im Vorübergehen.
Warum ist das so?
Weil wir meistens nicht UNMITTELBAR SEHEN. Es steht immer etwas zwischen uns und dem Motiv, das wir zeichnen wollen, das uns den Blick verstellt.
Es sind wir selbst und unsere Gedanken, die uns im Weg stehen.
Alles, was wir um uns herum sehen, wird von unseren Gedanken gefiltert. Wir sehen nicht alles WIE es ist, wir sehen alles, wie wir denken, dass es ist.
Man kann sich diesen Filter auch wie einen halb transparenten Schleier vorstellen, der sich auf alles legt, was wir sehen und was wir erleben.
Dieser Schleier ist gewebt aus unseren Bewertungen, Vermutungen und Vorurteilen.
Bei allem, was wir anschauen, sehen wir immer noch etwas, nämlich das, was wir darüber denken oder was wir denken, was andere darüber denken oder was wir denken, was wir denken sollten.
Es ist genau dieser Schleier, der uns oft glauben macht, zeichnen sei schwierig.
Auch wenn dieser Gedankenschleier zu unserer menschlichen Natur gehört und wir ihn nie ganz los werden können, kann man ihn zur Seite schieben, und sei es auch nur für kurze Momente.
In diesen besonderen Momenten können wir UNMITTELBAR SEHEN.
Wir können dieses klare und unverstellte Sehen erleben, wenn wir HIN-sehen.
Das HIN-sehen gelingt uns dann, wenn wir von uns ab-sehen.
Dieses HIN-sehen ist zu vergleichen mit einem direkten auf etwas zugehen. HIN-sehen ist Hingehen mit den Augen.
In diesem Moment des HIN-sehens geht es (endlich mal) nicht mehr um uns. Es geht nicht mehr darum, was wir gerade wollen (gut zeichnen), was wir erwarten (eine umwerfende Zeichnung) oder was wir denken (ich kann das nicht)
Beim HIN-sehen gehe ich aus mir heraus, ich verlasse mich selbst, als den Mittelpunkt meines Interesses.
Wenn ich von mir selbst absehe, SCHENKE ich dem Motiv meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Es ist jene Aufmerksamkeit, die üblicherweise meiner eigenen Person gilt.
Für dieses Geschenk der uneingeschränkten Aufmerksamkeit, werden wir vom Motiv großzügig belohnt.
Plötzlich ist es möglich, das Motiv als das zu sehen, was es ist.
Ich erkenne dessen einzigartige Existenz in diesem einzigartigen Augenblick.
In solchen Momenten können wir dem Motiv, dem, was es uns sagt, leicht und losgelöst mit dem Stift auf dem Papier unverstellt antworten.
Das Motiv hat sich uns offenbart.
Man kann diese besonderen Momente des gelüfteten Schleiers nicht erzwingen, aber man kann ganz ungezwungen darauf zugehen und die Wahrscheinlichkeit, sie zu erleben, aktiv erhöhen.
Es bedarf dafür gar nicht viel.
Hier ein paar gut wirksame „Tricks“:
- Viel zeichnen
- Trotzdem zeichnen (jeder hat da sein eigenes „trotzdem“)
- Seine eigenen Zeichnungen nie und niemals runtermachen, nicht nur nicht vor anderen, sondern auch vor sich selbst nicht.
- Für jede einzelne Zeichnung dankbar sein, unabhängig davon, was man gerade darüber denkt.
- Jedem Motiv, sei es ein tatsächliches Wunder der Natur oder irgendwas Profanes, mit Staunen begegnen. („Wow. so also sieht das aus“).
Das Zeichnen selbst nämlich ist gar nicht schwierig, nur diese festgefahrenen Gedanken darüber loszuwerden, z. B. zu denken, Zeichnen sei schwierig, ist nicht immer ganz leicht.
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Der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux („Le Magnifique“) formuliert in seiner Theorie des Ideorealismus die Formel der Schönheit/des Göttlichen/des Kunstwerkes sei ein „1 + 1 = 3“. Wenn zwischen Dir und dem betrachteten Objekt ein Drittes hinzutritt: die Schöpferkraft, die Phantasie, dann entsteht ein Kunstwerk. Also können zwischen mir und dem Zeichenobjekt durchaus Gefühle, Vorstellungen, Ideen treten, wenn sie meiner Zeichnung dienen. Nur vorgefasste Ideen sollten es nicht sein. Das meintest Du wohl auch.
Absolut. Diesen Dichter und diese Formel kannte ich noch nicht. Muss ich unbedingt recherchieren. Herzlichen Dank für den Hinweis.
Seine Bücher erschienen einst in meinem Verlag (in den 80ern und 90ern). Sie sind inzwischen nur noch antiquarisch zu haben. Bei Gelegenheit kann ich mal in den Trümmern fischen, ob ich noch was finde. Beste Chancen in „Res Poetica – oder die Republik der Poesie“ und in „La Randonné – Der Ausflug“. Wünsche Dir einen lockeren Strich!